top of page

Tipps bei Muskelkrämpfen

Beim langen Sitzen, mitten in der Nacht oder bei sportlichen Aktivitäten – im Laufe eines Jahres leiden 37 Prozent der Bevölkerung unter Muskelkrämpfen [2]. Sie treten lokal in verschiedenen Muskelgruppen auf. Meist sind Wade, hinterer oder vorderer Oberschenkel betroffen, die Wade generell am häufigsten [1]. Muskelkrämpfe sind unfreiwillige, schmerzhafte und andauernde Anspannungen der Skelettmuskulatur.

Heute wird vermutet, dass es sich um einen fehlerhaften Rückenmarksreflex handelt, an dem zwei Messfühler beteiligt sind das Golgi­-Sehnenorgan (GTO), welches die Spannung eines Muskels erfasst und die Muskelspindeln, welche die Muskellänge messen. Zwischen diesen beiden besteht normalerweise ein Gleichgewicht [17]. Bei Muskelkrämpfen liegt nach jüngsten Theorien eine erhöhte Muskelspindel-Aktivität vor bei gleichzeitig verringerter Hemmung des GTO. Daraus resultiert eine abnormale Muskelsteuerung im Alpha-Motoneuron, die zum Krampf führt.

Die Ursachen für das Ungleichgewicht zwischen GTO und Muskelspindel sind vielfältig. Grundsätzlich können alle Krankheiten, die das Nervensystem beeinflussen, Krämpfe verursachen. Zudem wirken sich manche Medikamente, zum Beispiel Cholesterinhemmer und Blutdrucksenker, irritierend auf die Nerven aus [18].

Dehnen

Instinktiv dehnen die meisten Menschen den betroffenen Muskel sofort, was den Krampf in der Regel lindert bis er schlussendlich ganz nachlässt. In einer Patientenstudie ließ sich die nächtliche Krampfneigung durch passive prophylaktische Dehnung deutlich reduzieren. Hierfür wurde der betroffene Muskel dreimal zehn Sekunden vor dem Schlafen gedehnt [16].

Magnesium

Weit verbreitet im Umgang mit Muskelkrämpfen ist der Magnesium-Tipp. Er basiert auf der Annahme, dass Calcium für Anspannung und Magnesium für Entspannung der Muskulatur sorgt. Fehlt Magnesium, kann die Muskulatur nicht optimal arbeiten und neigt zu Verspannungen und Krämpfen [3]. Bisher konnte jedoch keine Studie einen Effekt von Magnesium auf idiopathische (ohne erkennbare Ursache) Muskelkrämpfe in einer allgemeinen Patientenpopulation nachweisen [12, 29, 30]. Lediglich bei der Behandlung von nächtlichen Krämpfen bei Schwangeren zeigte sich ein schwacher Effekt [4].

Chinin

Anzahl, Dauer und Schwere von Muskelkrämpfen lassen sich durch Chinin reduzieren [9]. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass Chinin die Erregbarkeit der motorischen Endplatten am Muskel senkt.

Die Einnahme von Chinin ist allerdings riskant. Eine Überdosis führt unter Umständen zu Schwindelgefühl, Kopfschmerz, Tinnitus, Taubheit, vorübergehender Erblindung, Blutbildveränderungen (Thrombozytopenie), Nervenschädigungen bis hin zur Herzmuskellähmung.

 

In Deutschland ist Chinin für die Anwendung am Menschen zugelassen, aber verschreibungspflichtig. Seit dem 1. April 2015 dürfen es Ärzte nur noch bei nächtlichen Wadenkrämpfe verschreiben, die häufig und schmerzhaft auftreten und bei denen andere konservative Therapien erfolglos sind. Nach Ansicht der Zulassungsbehörde (BfArM) können nur Ärzte die bekannten Wechselwirkungen und Kontraindikationen des chininhaltigen Medikamentes Limptar®N sinnvoll ausschließen [13].

Gewürzgurkenwasser

Ein  unbedenkliches Mittel gegen Muskelkrämpfe scheint Pickle Juice zu sein, der Sud, in dem Gewürzgurken eingelegt sind.

 

Im Jahr 2000 trafen zwei Footballmannschaften bei extrem heißem Wetter aufeinander. In einem der Teams mussten viele Spieler aufgrund von Krämpfen das Spiel abbrechen, während die andere Mannschaft keinen Spieler verlor und das Spiel gewann. Ihre Geheimwaffe? Gurkenwasser [14]. Das Footballspiel inspirierte den Medizinstudenten Kevin Miller, seine Doktorarbeit über den Einfluss von Gurkenwasser auf Muskelkrämpfe zu schreiben, die er 2010 veröffentlichte [15].

Da Krämpfe im Zusammenhang mit Flüssigkeits- und Elektrolytverlust zu stehen scheinen, ließ Miller zehn Testpersonen in 30-Minuten-Intervallen auf Ergometern fahren, bis sie durch Schweißabgabe drei Prozent ihrer Körpermaße verloren hatten. Durch eine elektrische Stimulation löste er bei den Teilnehmern einen Krampf im Großzehenbeuger aus. Anschließend bekamen sie entweder Gurkenwasser oder salzfreies Wasser zu trinken.

 

Die Krampfdauer war bei den Personen, die Gurkenwasser zu sich genommen hatten, kürzer als bei der Trinkwassergruppe. Der Krampf löste sich mit dem Gurkenwasser nach durchschnittlich 85 Sekunden. Miller und Kollegen empfehlen in der Krampfsituation, 1ml Gurkenwasser pro Kilogramm Körpergewicht einzunehmen. Dadurch soll sich der Krampf  lösen. Nach Angaben der Autoren ist die Wirksamkeit des Gurkenwassers bisher nur auf Krämpfe bezogen, die durch Muskelaktivität ausgelöst sind.

Die Blut- und Urinproben der beiden Gruppen zeigten in der Studie im Hinblick auf Mineralienkonzentrationen (Natrium, Kalium, Magnesium und Calcium) und Blutplasmavolumen keine Unterschiede. Somit hat das Gurkenwasser keinen Einfluss auf die Körperflüssigkeiten, was insofern nicht verwunderlich ist, da 85 Sekunden viel zu kurz wäre, um den Magen passieren und vom Körper aufgenommen werden zu können.

Und selbst wenn das Gurkenwasser schnell genug durch den Magen käme, würden die Inhaltsstoffe nur ausreichen, um 2 Prozent des Flüssigkeitsverlustes zu ersetzen, 38 Prozent des Natriums, 1 Prozent des Kaliums, 24 Prozent des Magnesiums und 47 Prozent des Calciums. Somit ist nicht bekannt, welche Zutat im Gurkenwasser die Muskulatur entspannt.

 

Miller und sein Team vermuten, dass der Geschmack der Essigsäure im Rachen sich krampflösend auswirkt. Entscheidend ist, dass das Gurkenwasser die Alpha-Neuronen-Aktivität in der krampfenden Muskulatur reduziert [15].

André Wolter

Literatur zum Artikel „Tipps bei Muskelkrämpfen“ von André Wolter (physiopraxis 1/17)

  1. Armstrong S, Cross T. Exercise- associated muscle cramps. MedicineToday 2013; 14: 62–65

  2. Jansen PH, Joosten EM, Vingerhoets HM. Muscle cramp: main theories as to aetiology. Eur Arch Psychiatry Neurol Sci 1990; 239: 337–342

  3. Häufige Ursachen für Muskel- und Wadenkrämpfe. Ratgeber Muskeln Gelenke Knochen: http://www.ratgeber-muskeln-gelenke- knochen.de/muskelkraempfe-wadenkraempfe-ursachen; letzter Zugriff: 9.11.2016

  4. Sebo P, Cerutti B, Haller DM. Effect of magnesium therapy on nocturnal leg cramps: a systematic review of randomized controlled trials with meta- analysis using simulations. Fam Pract 2014; 31:7–19

  5. Scahill SL. Magnesium for muscle cramps, Journal of primary health care 2013; 5: 253

  6. Sulzer NU, Schwellnus MP, Noakes TD. Serum electrolytes in Ironman triathletes with exercise-associated muscle cramping. Med Sci Sports Exerc 2005; 37: 1081–1085

  7. Schwellnus MP. Cause of Exercise Associated Muscle Cramps (EAMC) − altered neuromuscular control, dehydration or electrolyte depletion? Br J Sports Med 2009; 43: 401–408

  8. Schwellnus MP, Drew N, Collins M. Muscle cramping in athletes – risk factors, clinical assessment, and management. Clin Sports Med 2008; 27: 183–194

  9. Fung MC, Holbrook JH. Placebo-controlled trial of quinine therapy for nocturnal leg cramps. West J Med 1989; 151: 42–44

  10. FDA Drug Safety Communication: New risk management plan and patient Medication Guide for Qualaquin (quinine sulfate); 8.7.010. http://www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm218202.htm; letzter Zugriff: 9.11.2016

  11. Borsch J. Ab 1. April ist Limptar verschreibungspflichtig. Deutsche Apotheker Zeitung (DAZ); 18.3.2015

  12. Sadfi-Charbonnier S, Garin N, Jung M. Behandlung von Patienten mit idiopathischen Beinkrämpfen. Schweiz Med Forum 2010; 10: 321–324

  13. BfArM-Risikobewertungsverfahren: Chinin gegen nächtliche Wadenkrämpfe (Limptar® N): Bescheid des BfArM zu Änderungen der Produktinformation, einschließlich Einschränkung der Indikation, u.a. wegen des Risikos für schwere Blutbildveränderungen (Thrombozytopenien) im Rahmen eines nationalen Stufenplanverfahrens. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte; 2.4.2015

  14. Smith P. How Pickle Juice Changed the World of Sports: Food Innovations From the Football Field; 8.2.2011. https://www.good.is/articles/how-pickle- juice-changed-the-world-of-sports-food-innovations-from-the-football-field; letzter Zugriff: 9.11.2016

  15. Miller KC, Mack GW, Knight KL et al. Reflex inhibition of electrically induced muscle cramps in hypohydrated humans. Med Sci Sports Exerc 2010; 42: 953–961

  16. Hallegraeff JM, van der Schans CP, de Ruiter R et al. Stretching before sleep reduces the frequency and severity of nocturnal leg cramps in older adultsa: a randomised trial. J Physiother 2012; 58: 17–22

  17. Bergeron MF. Muscle Cramps during Exercise – Is It Fatigue or Electrolyte Deficit? Current Sports Medicine Reports 2008; 7: S50–S55

  18. Muskelkrämpfe: Ursachen und Therapien. NDR, Ratgeber Gesundheit; 24.05.2016. http://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Muskelkraempfe- Ursache-und-Therapien,muskelkrampf101.html

  19. Wiemeyer J. Dehnen und Leistung – primär psychophysiologische Entspannungseffekte? Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 2003; 54: 288– 294

  20. Behringer M, Moser M, McCourt et al. A Promising Approach to Effectively Reduce Cramp Susceptibility in Human Muscles: A Randomized, Controlled Clinical Trial. PLoS One 2014; 9: e94910

  21. Stone MB, Edwards JE, Stemmans CL et al. Certified athletic trainers’ perceptions of exercise-associated muscle cramps. J Sport Rehabil 2003; 12: 333–342

  22. Minetto MA, Holobar A, Botter A et al. Discharge properties of motor units of the abductor hallucis muscle during cramp contractions. J Neurophysiol 2009; 102: 1890Y901

  23. Baldissera F, Cavallari P, Dworzak F. Cramps: a sign of motoneurone ‘‘bistability’’ in a human patient. Neurosci Lett 1991; 133: 303Y6

  24. Baldissera F, Cavallari P, Dworzak F. Motor neuron ‘‘bistability.’’ A pathogenetic mechanism for cramps and myokymia. Brain 1994; 117: 929Y39

  25. Ross BH, Thomas CK. Human motor unit activity during induced muscle cramp. Brain 1995; 118: 983Y93

  26. Maughan RJ. Exercise-induced muscle cramp: a prospective biochemical study in marathon runners. J Sports Sci 1986; 4: 31–34

  27. Eichner ER. The role of sodium in heat cramping. Sports Med 2007;37: 368– 70

  28. Bergeron MF. Heat cramps: fluid and electrolyte challenges during tennis in the heat. J Sci Med Sport 2003; 6: 19–27

  29. Lindemuth R. et al. S1-Leitlinie Crampi/Muskelkrampf. 2017. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien  abgerufen 15.04.2018

  30. Garrison, R. Magnesium for skeletal muscle cramps - 2012 - The Cochrane Library - Wiley Online Library

bottom of page